KASPAR HAUSERS GESCHWISTER
SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth über das neue Leben der Kinder von Cighid
Die Kreuze sind verwittert, die Namen der Kinder verblaßt. Über die Gräber ist Unkraut gewachsen. Hart ist der Schnitt zur braunen Scholle rundum. Ein Pflug ist über die Hälfte der Kindergräber hinweggegangen. Trümmer der zerbrochenen Kreuze sind zu Scheiterhaufen gesammelt. Drei Hunde streunen umher. Mag sein, daß sie sich ein paar hochgekommene Knochen genommen haben.
Sind sie vergessen, die Toten, 137 Kinder, die im Horrorschloß von Cighid vernachlässigt wurden, bis ihr Geist leerlief und der Hunger, die Kälte und der Dreck ihre Körper holten? Jene Nacht der Zivilisation im hybriden Sonnenkönigtum Ceausescus, ist sie verdrängt, untergepflügt, fünf Jahre nachdem die Revolution das einsame Schloß in der weiten Ebene am westlichen Rande Rumäniens erreichte und der Riegel aufging für eine elendige Schar von 109 überlebenden Kindern?
Ein eiserner Bogen mit der Aufschrift "Caminul Spital Cighid" (Heimkrankenhaus Cighid) erinnert an das Tor zum dunkelsten Ort der deutschen Vergangenheit. Klein-Auschwitz wurde das Schloß in der Umgebung genannt. Cighid war aber kein Auschwitz, weil das Tötungstabu formal respektiert wurde. Cighid wurde zum Inbegriff für Euthanasie durch die Verhältnisse und war doch bloß die erste erschlossene Insel im Archipel der rumänischen Kinder-Gulag für die "Irecuperabili", wörtlich: die Unwiederbringlichen.
Doch die furchtbaren Assoziationen verfliegen: Quirliges Leben quillt aus dem Tor. Sie rennen, und wie sie rennen, sie jauchzen und tollen nach Kinderart den Weg voran, während andere von behutsamen Frauen Arm in Arm oder Hand in Hand geführt werden.
Der Frühling macht sich bemerkbar, aber es ist noch kühl, und so hat ein jedes Kind eine Mütze auf: eine Kleinigkeit der Fürsorge und doch ein riesiger Sprung aus der Schreckenszeit, als diese Kinder in schmutzigen Lumpen vegetierten, wenn sie überhaupt angezogen waren.
Diese Kinder? Ja doch, es sind dieselben, die vor fünf Jahren in ihren Exkrementen dem Tod entgegendämmerten, jämmerliche Menschenbündel, die ihre Decke über den Kopf gezogen hatten als Zeichen dafür, daß sie abgeschlossen hatten mit aller Welt. Und auch die, die zu zweit im Gefängnis verrosteter Gitterbetten noch lebenswillig rackerten, aber mit ihren dürren, vom Muskelschwund gezeichneten Beinchen nicht zu einem Schritt fähig waren.
Und schließlich die Größeren, die mit kalkweißen Gesichtern im Halbdunkel eines ungeheizten "Isolators" in einem monumentalen Bett aus zusammengeschobenen Gestellen nur auf Preßholz inmitten von Unrat, Kot und Kotze wie die Tiere hockten und grauenhafte Heultöne von sich gaben.
Aus den Alptraumbildern der Vergangenheit blitzen im Sonnenlicht bekannte Gesichter auf, und doch ist ihr Ausdruck nicht wiederzuerkennen, wenn sie lachend in ihren Kreisspielen durch den lieblichen Park ziehen. Aus den Gittern der Gefängnisbetten sind Umfriedungen für noch ruhende Blumenbeete geworden.
Ein Bus fährt vor, und es geschieht, was in aller Welt eine alltägliche Szene wäre, aber an diesem Ort wie ein Triumph über die düstere Vergangenheit wirkt: 15 Kinder und Teenager mit Ranzen auf dem Rücken springen nacheinander heraus und stürmen, plappernd über den Schulvormittag im Dorf, ihr Zuhause.
Das einstige Jagdschloß der ungarischen Grafen Tisza steht mit seinem festen Gemäuer unverändert da, nur der Putz ist in einem helleren Beige erneuert worden. Die alte Tür öffnet sich zu denselben Gängen, denselben Räumen und doch zu einer neuen Welt.
Daß die Wände, einst voller Risse, Stockflecken und klebrigem Schmier, renoviert und mit naiven Bildern bemalt sind, daß statt des schrundigen, von Schmutz starrenden Parketts glattes und blitzsauber gewischtes Linoleum liegt - das mögen nur Äußerlichkeiten sein.
Daß es aber nicht nur zwei desolate Klos wie früher, sondern ein Dutzend funktionierender Toiletten gibt, daß statt einer verrosteten Wanne mit defektem Wasseranschluß sechs weiße Wannen und drei Duschen da sind und aus all den verchromten Hähnen heißes Wasser fließt - dieser westliche Standard von Hygiene war eine überlebenswichtige Voraussetzung.
Der bestialische Geruch von Fäkalien und Fäulnis, Moder und Verwesung ist verschwunden: Durch die offenen Fenster treibt der Wind frische Luft herein, und trotzdem ist es kuschelig warm. Wo einst schrottreife Kanonenöfen so selten geheizt wurden, daß die Kinder reihenweise an Lungenentzündung starben und die Überlebenden an schmerzhaften Erfrierungen litten, wirkt segensreich eine Zentralheizung.
Als kürzlich bei minus 15 Grad der deutsche Brenner versagte, weil er dem verschmutzten rumänischen Öl nicht gewachsen war, ging ein Alarmruf nach Frankfurt zu Pfarrer Karl-Heinz Pelikan, 40. Der gebürtige Rumäne hatte vor fünf Jahren die Renovierung mit deutschen Spendengeldern koordiniert. Er versprach, mit einer Sammlung in seiner Gemeinde zu helfen. Jetzt ist er gerade da, um die ausgelegten 7000 Mark für ein weniger anfälliges Modell ungarischer Bauart persönlich vorbeizubringen.
Die Zivilisation bescherte der Kinderschar, die früher zum Hocken verdammt war, ein paar kleine Sofas mit abziehbaren Bezügen. Doch die neuen Möbel, die robusten Holzbetten und die schlichten Kiefernschränke für die Kleidung, die einst im Haufen am Boden lag, machten aus dem herrschaftlichen Gebäude kein Luxusheim. Nach deutschem Standard ist es viel zu klein für die 102 Zöglinge: Keiner hat einen privaten Bereich, nur sein Bett mit seinem eigenen Kuscheltier auf der Decke. Trotzdem ist das Kinderschloß für rumänische Verhältnisse, so schwärmt das Personal, "wie ein Traum".
In diesem Mikrokosmos vollzieht sich ein in der Welt vielleicht einmaliges Experiment. Die grausame Geschichte entließ 1990 aus ihren Klauen eine ganze Hundertschaft von kleinen Kaspar Hausers. Wie dem jungen Mann, der 1828 verwirrt in Nürnberg auftauchte, wurden den Kindern elementare Voraussetzungen für ihre Entwicklung vorenthalten. Kaspar mußte von seinen Lehrern erst das Sprechen lernen, bis er mit einigen Schwierigkeiten mitteilen konnte, daß er seine prägenden Jahre in einem halbdunklen Verlies nur bei Wasser und Brot verbracht hatte.
Der naive Wilde, der Schritt um Schritt zivilisiert wurde (bis er fünf Jahre später aus mysteriösen Motiven ermordet wurde), lehrte die Gesellschaft durch sein kurzes Dasein, daß der Mensch durch den Menschen geschaffen wird: Ohne einen Transfer von Kultur sinkt er ab auf den Standard eines instinktgesteuerten Tieres.
Dieses Prinzip wurde durch die Kinder von Cighid in vielfältigen Varianten belegt. Solche Geschöpfe des sozialen Mangels kannte die moderne Wissenschaft des Westens nicht. Was war verschüttet, was war zu entwickeln? Niemand konnte voraussagen, was aus den Kindern unter normalen Bedingungen werden würde.
Sie waren zugleich behaftet mit einem kindlichen KZ-Syndrom: So heißt in Erinnerung an die deutschen Verbrechen das existentielle Trauma bei Kindern, die fundamental um die Sicherheit ihres Lebens betrogen wurden und tagtäglich fürchten mußten, daß auch sie umgebracht werden konnten. Ihrer Geschichte vermochten sie nie ganz zu entrinnen, wie später in Krakau und in Jerusalem erforscht wurde. Maßgebliche Erkenntnisse wurden zur Grundlage für die psychische Behandlung von Folteropfern.
Trotz aller Anstrengungen konnten die Auswirkungen des kindlichen KZ-Syndroms nur unzureichend erhellt werden. Denn als die Kinder aus den deutschen Vernichtungslagern befreit worden waren, zerstreuten sie sich in alle Welt. Erst nach Jahren wurde das eine oder das andere von Forschern aufgetan.
Die Kinder von Cighid blieben dagegen fast alle beieinander, und sie blieben an demselben Ort, wo einst der Schrecken regierte und dann abrupt die Humanität einzog.
Hinzu kommt der Glücksfall, daß sich für das abgelegene Schloß ein Arzt fand, der die Kinder minutiös beobachtete und von jedem unzählige Details seiner Entwicklungsgeschichte kennt. Als auf Cighid im Frühjahr 1990 ein Schlaglicht erst der deutschen und dann der internationalen Berichterstattung fiel, als auch im rumänischen Fernsehen Szenen aus dem Horrorschloß liefen, als es einen Schandfleck der Nationalehre zu tilgen galt und dazu noch Heere von deutschen Helfern zu dirigieren, da übernahm der renommierte Kinderarzt Pavel Oarcea mehr gedrängt als angezogen die Heimleitung: für sechs Monate.
Nach zwei Monaten brach sein Magengeschwür durch, aber die Not der Kinder hielt ihn vorerst für ein weiteres halbes Jahr. Daraus sind nun fünf Jahre geworden, und wenn ihn die unergründliche Bürokratie an dem Ort beläßt, will Oarcea, inzwischen 47, dableiben, denn die Kinder haben sich in der Welt seiner Gefühle breitgemacht: "Ich habe hier viele Glücksmomente und moralische Befriedigung, vielleicht bin ich auch ein besserer Mensch geworden."
Wenngleich Oarcea noch seine alte Stadtwohnung hat, zieht er sich abends meist zurück in ein kleines, für ihn im Schloßpark gebautes Häuschen mit zwei winzigen, karg eingerichteten Zimmern. An der Wand ein Poster mit zwei Pferden aus einem Gratisblättchen der deutschen Apotheken.
Als Gegengewicht zu den Kinderbelangen vertieft er sich in Europas Geschichte. In den Biographien von Napoleon, de Gaulle und Stalin kennt er sich aus. Weil er sich für die Parallelen bei Ceausescu und Hitler interessiert, liegt "Mein Kampf", gerade ins Rumänische übersetzt, auf seinem Nachttisch. Auch verwirrte ihn, daß er die Deutschen einst für Monster hielt und dann ganz andere Menschen kennenlernte. Nun will er ergründen, wer Hitler wirklich war. Er wird lesen.
Trotz oder gerade wegen seiner Kenntnisse über Herrschernaturen führt Oarcea das Heim auf die sanfte Art. Doch seine Kontrolle reicht bis zu den Kleinigkeiten. Da das Personal das weiß, hält es sich an seine Leitlinien. In der schweren Zeit unter Ceausescu klammerte sich Oarcea an die Ethik des Hippokrates, und daraus ergaben sich seine Prinzipien für das neue Cighid.
In der Ärztin Daniela Ardelean, 30, die Dostojewski liebt und wie eine seiner starken, doch weichen Frauengestalten wirkt, fand er eine Ergänzung: "Wir haben die gleiche Wellenlänge."
Vor der Revolution unterstand die medizinische Versorgung im Schloß einer Ärztin anderer Art. Dr. Angelika Barbu schaute nur gelegentlich nach den "Unwiederbringlichen" und hinterließ sorgfältig ausgefüllte Totenscheine: etwa für Radu, schon als Baby "institutionalisiert", als Sechsjähriger, weil er nicht schulreif war, für Cighid ausgesondert zu einer Hinrichtung durch die Verhältnisse in nur 63 Tagen: "Seit der Ankunft in diesem Haus hat er sich zurückgezogen, hat die Fütterung abgelehnt, fast systematisch, ist progressiv abgemagert und dadurch atrophisch geworden. Das Kind ist gestorben als Folge eines Herz-Kreislauf-Stillstandes."
Damals schwebte eine demoralisierte Mannschaft von fünf Krankenschwestern und zwei Pflegern in blütenweißen Kitteln durch das Kinderelend und delegierte die Unterversorgung an zehn ungelernte Bäuerinnen. Bis auf zwei entließ Oarcea alle. Das neue Personal wählte er in langen Gesprächen nach seiner "Zuwendungsfähigkeit" aus. 105 Menschen beschäftigt inzwischen der Schloßbetrieb, darunter 40 Pflegerinnen, 10 Erzieherinnen und eine Lehrerin.
Da es in Rumänien keine Ausbildung für die Betreuung von geistig behinderten Kindern gab, schulten in einem Rotationsverfahren jeweils zwei deutsche Fachkräfte über einen Zeitraum von drei Jahren das Personal. Sie kamen aus der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, die mitten in Hamburg ein Dorf mit Kirche für 1200 geistig behinderte Menschen aller Altersstufen unterhält.
Ende der siebziger Jahre als "Schlangengrube" angeprangert, wurde die Anstalt in einer Art Kulturrevolution zu einem offenen Komplex mit Familienatmosphäre. So manches Problem in Cighid - den Alsterdorfern war es aus der eigenen Geschichte vertraut. Sie luden ihre rumänischen Kollegen nach Hamburg ein und zeigten ihnen die modernen Methoden. Oarcea: "Wir haben von den Alsterdorfern viel gelernt, professionell und persönlich."
Die Deutschen wiederum hatten von den Skandinaviern gelernt, die schon in den sechziger Jahren die Revolution in ihren Anstalten lostraten und sieben Kriterien zur Herstellung von Normalität formulierten: daß der Tagesrhythmus betont und von der Nacht abgehoben wird; daß der Wechsel der Jahreszeiten durch verschiedene Aktivitäten und Feste deutlich wird; daß zwischen den Lebensstufen unterschieden und die Menschen altersadäquat behandelt werden; daß es ein Anrecht auf Ausbildung und Beschäftigung gibt, aber die Bereiche von Arbeit und Wohnen getrennt sind; daß Eigentum respektiert wird; daß die Integration in die Gemeinde gewährleistet ist und daß Behinderte anerkannt werden als Menschen mit verschiedenen Interessen und Wünschen, auch sexueller Art.
Die Prinzipien wurden von der Weltgesundheitsorganisation übernommen als Forderung an alle Länder. In Cighid wurde der Katalog mit einigen Abstrichen wegen der begrenzten Räumlichkeiten und mit Ausnahme der sexuellen Wünsche verwirklicht. Das Heim gilt als Modell für Rumänien.
Außerdem machte der Alsterdorfer Psychologe Michael Wunder, 42, der über Euthanasie im Dritten Reich promovierte, das Personal mit dem KZ-Syndrom vertraut und packte es "bei der Berufsehre", damit es vor Frustrationen nicht zurückschreckte: "Bei den traumatisierten Kindern ist es sehr mühsam, ihr beschädigtes Urvertrauen aufzubauen und zu ihnen vorzudringen."
Obwohl Wunders Mission als Koordinator des Alsterdorfer Einsatzes offiziell beendet ist, kommt er alle paar Monate nach Cighid, "einfach nur, um mich am Fortschritt der Kinder zu freuen".
Von Anfang an verguckte er sich in das alt wirkende Kindergesicht von Tiberius, und bei jedem Wiedersehen staunte er: "Tibi ist wieder ein bißchen jünger geworden."
Tiberius stammt aus einer Zigeunerfamilie. Seine Mutter ist schwachsinnig, sein Vater Alkoholiker. Von seinen 13 Geschwistern sind einige geistig behindert, aber andere durchschnittlich begabt, wie Oarcea bei seinen Erkundungen über die Herkunft seiner Schützlinge herausfand. Dabei stieß er auch auf ein Familienverbrechen: Im Suff hatte der Vater mit einem Baby, das im Bündel am Boden lag, Fußball gespielt und es auf den offenen Ofen geschossen. Da verglühte es.
Tiberius sollte es besser haben. Im Brutkasten wurde das Frühchen von 1600 Gramm warm gehalten, dann aber im Waisenhaus der Kreisstadt Oradea nur körperlich gepflegt. Mit vier Monaten wies Tiberius eine "mittelmäßige", mit drei Jahren eine "starke Retardierung" auf: Er wurde ausgesondert für die Hölle von Cighid.
Da saß er vor fünf Jahren nackt und kotbeschmiert mit dem Kopf unter einer braunen Decke. Als sie ihm zur Fütterung weggezogen wurde, schob er mit einer Handbewegung vom Format einer Kindermajestät immer wieder den Löffel weg. Er hatte sich zum Sterben entschlossen.
Bei schwerem KZ-Syndrom erlischt in Kindern noch vor dem Tod der animalische Lebenstrieb. Daß Tiberius gerettet wurde, muß er nach den Forschungsergebnissen erst einmal als Brechung seines letzten Willens empfunden haben.
Damals war er so groß wie ein Kleinkind und doch schon sieben Jahre alt. Jetzt mit zwölf Jahren ist er körperlich wie ein schmächtiger Siebenjähriger entwickelt. Er spricht kein Wort, aber er hat angefangen, Silben von sich zu geben: Er lautiert, so heißt der Fachausdruck.
Manches geistig behinderte Kind konnte, wie Erfahrungen in Deutschland zeigten, trotz aller Bemühungen über dieses Stadium nicht hinauskommen, aber doch als Erwachsener, der nicht sprechen kann, mit anderen Fähigkeiten in eine sozial beschützte Welt integriert werden. Oarcea: "Tiberius wird etwas leisten. Wir sind es, die aufhören müssen zu fragen, ob das wenig oder viel sein wird."
Was er nicht schon alles gelernt hat: Den Pulli kann er sich überziehen, sein Gesicht cremt er sich selber ein, und mit zarter Hand cremt er auch die kleine Gefährtin ein, die das noch nicht kann. Er haut nur so rein in sein Essen und bringt mit seinem Löffel die schwierigen Spaghetti wohlbehalten in den Mund. Er kann, wenn man ihn anlacht, mit einem Lachen antworten, und wenn man "Tibi" ruft, kommt er mit einem Jauchzen angelaufen. Zwar fällt er nicht, aber er eiert hin und her - die Folge eines Behandlungsfehlers.
Nach der Befreiung der Kinder aus dem Gefängnis ihrer Gitterbetten rauschte eine Begeisterung des Laufenlernens durch die Reihen der Kleineren. Jedes Kind wollte jedes andere übertrumpfen und schneller auf den Beinen sein. Tiberius, der nur sitzen, aber nicht kriechen und noch nicht einmal knien konnte, übersprang alle Stadien und überforderte seine sieben lange Jahre unbenutzten Hüftgelenke. Man hätte ihn bremsen müssen und nur kriechen lassen dürfen - aber von diesen Finessen wußten seine Betreuerinnen noch nichts im Wirbel der Neuerungen.
Für Sandor, 13, kam die Revolution in Cighid zu spät. Wie Tiberius hatte er sich schon die Decke über den Kopf gezogen. Huuuhuuu, ein gutturales Heulen wie der Ausdruck allen Unglücks dieser Erde drang hervor. Am Tag, als das Foto von dem embryonal verkrampften Jungen mit den erwachsenen, hellwachen Augen millionenfach in Deutschland erschien, lag Sandor tot in seinem Bett.
Karoly, 3, der mit Fusselhaaren im Gesicht wie ein Trollkind wirkte, wurde von deutschen Helfern in ein Krankenhaus gebracht und an den Tropf gelegt, aber er packte mit seinen dürren Ärmchen das Leben nicht mehr.
Nach ihnen gab es in Cighid keine Todesopfer mehr. Die Hilfe war im letzten Moment gekommen. "Etwas später wäre für viele zu spät gewesen", sagt Oarcea, "20 bis 30 wären innerhalb der nächsten Monate gestorben."
Kinder, die dem Leben schon beinahe verlorengegangen und zu keiner emotionalen Reaktion fähig waren, stiegen auf zu den Sternchen von Cighid. Sie waren noch klein, als sie ihrem Elend entrissen wurden, und deshalb hatten sie die größeren Chancen. "Unwiederbringliche" entwickelten sich zu Schulkindern und widerlegten die Kriterien, nach denen sie einstmals als geistig behindert ausgesondert worden waren.
Behindert wurden sie durch ein perverses System, das ihnen erst einmal gnädig entgegenkam. Um die Zahl seiner Untertanen zu vermehren, hatte Ceausescu seinem Volk die Fruchtbarkeit befohlen. Über die gefüllten Gebärmütter wachten medizinische Spitzeldienste.
Massenhaft wurden ungewollte Kinder geboren und in Sozialwaisenhäuser abgeschoben. Medizinische Sorgfalt brachte sie über ihre ersten zwölf Monate - für die Statistik. Rumänien sollte prächtig dastehen im internationalen Vergleich der (bis zum ersten Lebensjahr erfaßten) Säuglingssterblichkeit, die als zivilisatorischer Gradmesser gilt.
Im Waisenhaus von Oradea, in Fluchten der Verlassenheit, die durch gläserne Wandscheiben zu überblicken waren, wurden die Kleinkinder sauber und satt gehalten - mehr nicht. Aus ihren Gitterbetten kamen sie in der Regel nicht heraus. In einer sozial-darwinistischen Konkurrenz eroberten sich einige etwas menschliche Wärme und gediehen, während die anderen durch mangelnde Zuwendung körperlich, seelisch und geistig degenerierten, erst recht, wenn ihre Geburtsschäden einer besonderen Förderung bedurft hätten.
Wie überall in Rumänien wurden die Sozialwaisen im Alter von drei Jahren idiotischen Intelligenztests unterzogen und von einer Kommission sortiert: Die Schönen und Klugen blieben in Oradea, die Zurückgebliebenen kamen in Heime aufs Land, und die Erbärmlichsten wurden mit dem Verdikt "irecuperabil" für Cighid selektiert.
Wenn auch das Wort inzwischen vermieden wird, wenn auch Cighid kein Hinrichtungsheim mehr ist - der Kinderarzt Oarcea sieht das System und vor allem den Geist, der es trieb, noch immer obwalten.
In Cighid war Robert so ein "unwiederbringlicher" Vierjähriger, als sich der Doktor seiner annahm: "Er war schon am Sterben." Fast verhungert, wog er nur 7,7 Kilo - soviel wie ein Säugling mit sieben Monaten. Robi, wie er genannt wird, brauchte ein Jahr, bis er zu Kräften kam und laufen konnte. Dann fing sein kleiner Geist zu funkeln an, und das geschah nicht nur bei ihm allein. Statt geistig behinderter Kinder hatte Oarcea plötzlich Kinder mit klugen Fragen und ein Problem im Haus: Sie mußten hinaus zu einem ersten Schritt in die normale Welt.
Das nächste Dorf Ghiorac (2600 Einwohner) hatte eine Schule mit pädagogischem Kindergarten und einem Schulmeister wie aus einem alten Bilderbuch. Schon 30 Jahre unterrichtet Petru Barbu, 50, in dieser Schule, in der das Jahrhundert noch in seinen Anfängen zu stehen scheint: eiserne Öfen in den Klassenzimmern, ausgedroschene Maiskolben zum Heizen, Plumpsklo auf dem Hof, zum Abwischen ein Liederbuch aus der Ceausescu-Zeit, zum Händewaschen ein paar Schüsseln auf Ständern und auch sonst Armut an allem Material. Das bekümmerte den Schulmeister, einen Proust-Kenner mit einem Schwein daheim, aber nicht sonderlich: "Knappheit muß nicht Knappheit im Geistigen bedeuten."
Rektor Barbu brachte mit seinen sechs Lehrern jeden Jahrgang der 8. Klasse fast komplett auf weiterführende Schulen der Umgebung. Er nahm es als pädagogische Herausforderung, als Doktor Oarcea eines Tages vorsprach und sechs Kinder für die Vorschule anmeldete.
Prompt drohte eine Mutter mit einem Boykott der Schule. Im Dorf herrschte Unruhe, die Cighid-Kinder könnten Läuse und ansteckende Krankheiten einschleppen. Da aber über hundert Familien aus der Gegend vom Schloß lebten, war die Propaganda für den Vorschulversuch bald stärker als die Gegnerschaft.
Da saßen sie dann, die sechs Pioniere aus Cighid, auf den kleinen Stühlen mit den Deckenresten, damit ihr Po nicht kalt wurde, und rutschten genauso darauf herum wie die anderen. Aber sie waren sauberer als die Kinder aus dem Dorf, in dem es kein fließendes Wasser und keine Bäder gab. Sie trugen die bessere Kleidung, und sie hatten die besseren Stifte, bis aus dem deutschen Reservoir der kleine Neid der anderen gestillt wurde.
Auffällig war, daß aus den einst vernachlässigten Kindern Prinz und Prinzeßchen geworden waren. Gewöhnt, daß sie im Schloß bedient und ihnen die Ranzen gepackt wurden, räumten sie ihre Sachen nicht weg. Aber sie paßten sich schnell an. Andererseits wirkten sie, nachdem sie ihre Ängste überwunden hatten, durch ihre Hilfsbereitschaft günstig auf die anderen ein.
Zwei rückten alsbald auf in die richtige Schule, vier drehten weitere Runden in der Vorschule, weil sie als Folge ihrer Unterernährung im Wachstum zurückgeblieben waren. Der quirlige Winzling Robi ist zwar mit neun Jahren noch im Kindergarten, aber er ist so helle, daß er, wie der Doktor meint, "alle Chancen hat, die Schule ein bißchen später zu durchlaufen und einen Beruf zu ergreifen".
Renata, 8, Doina, 9, und dazu noch Josif, 11, der plötzlich einen Entwicklungsschub machte und ohne Vorbereitung im Kindergarten eingeschult wurde, sitzen inzwischen in der zweiten Klasse: die Mädchen im karierten Kleid mit Schürze, der Junge im Jackett. So ist es als Schultracht vorgeschrieben, doch ihre Klassenkameraden aus dem Dorf befolgen die Regel nicht jeden Tag.
Josif befeuert mit Begeisterung den Ofen im Schulzimmer. Heizer oder Doktor will er einmal werden. Auswendig lernen kann er perfekt, aber beim logischen Denken hat er einige Probleme. Renata will Lehrerin werden, was ihrer Intelligenz durchaus zuzutrauen ist. Sie hat gerade die erste Eins ihres Lebens im Rechnen bekommen und hüpft auf einem Bein: "Endlich kann ich Mama eine Freude machen."
Mama? Ecaterina Laza, 28, die sich durch die Alsterdorfer Kurse als Erzieherin in Cighid qualifizieren konnte, nahm Renata für ein Wochenende mit nach Hause. In der kleinen Landwirtschaft mit Oma und Opa, drei Ferkeln und einer Kuh, Hühnern und einem Hund und dazu einem Brunnen unter einem lauschigen Rebendach gefiel es ihr so gut, daß sie sich heulend ihre Rückkehr erkämpfte - für immer: "Wo drei zu füttern sind", beschloß der Familienrat, "wird es für ein Kind schon noch reichen."
Während die neue Mama ihren Ehrgeiz in die angenommene Tochter setzt, bremst die Großmutter weise: "Sie ist doch erst mit vier Jahren geboren worden, sie ist doch noch gar nicht acht." Im Winter leben und schlafen alle vier, "weil das Holz so teuer ist", eng um den großen Ofen, darauf der Suppentopf und oben drüber die Wäsche. Im Sommer hat Renata ihre eigene Stube in der heilen Welt: gehäkelte Scheibengardinen, gestickte Wandsprüche ("Meinen Mann habe ich nie betrunken gesehen, deshalb tut es mir nicht leid, daß ich ihn geheiratet habe").
Josif ist nach der Schule im ehemaligen Isolator zu finden. Wo an der frischgestrichenen Flügeltür früher der ellenlange Riegel saß, hat sich die Spachtelmasse ein wenig in die Schraublöcher zurückgezogen: sonst keine Spur von den Schrecken, als im Halbdunkel dieses Raumes 17 Kinder auf dem Standard von Schweinen gehalten wurden, am Hintern Geschwüre vom Sitzen im Unrat, offene Wunden auf kurzrasierten Schädeln.
Wer nicht wahnsinnig war, mußte es werden in diesem furchtbaren Raum, und jetzt sitzt da Josif, gebeugt über ein Buch, und übt mit einer Erzieherin das Lesen. Unter der Decke schwebt ein Zweig behängt mit Watteflöckchen, von der strahlend hellen Lampe baumeln Papiersterne. Die zehn Betten sind ordentlich gemacht.
Von den einstigen Gefangenen des Isolators entkamen einige dem Wahn. Wo es kein Sprachmuster gegeben hatte, aber ein elementares Gesetz der Gewalt, da erschlug er mit bloßer Hand eine Ratte, bevor sie ihn biß: Das kann Dan Dan, ein Findelkind von vermutlich 14 Jahren, mittlerweile klar erzählen. Auch Laszlo, inzwischen 18, war ein Kaspar Hauser, als er aus dem Isolator befreit wurde. Mit ungelenker Zunge brachte er schließlich Sätze in abgehacktem Ton, aber richtigem Aufbau hervor.
Calin, inzwischen 11, war in der Gewalthierarchie ein unterdrückter Mini. Er konnte nicht lachen, er konnte sich aber mit ein paar Wortbrocken verständigen, die im Isolator nichts wert gewesen waren. In der neuen Freiheit fiel er alsbald durch Cleverneß auf. Nichts sprach dagegen, daß die einstigen Insassen des Isolators nun die Buchstaben lernen konnten. Auch fünf größere Mädchen wollten, angestachelt von den Kleinen, unbedingt zur Schule. Der Doktor kam mit einem neuen Problem zum Rektor. Die Alsterdorfer luden den Schulmeister zur ersten Auslandsreise seines Lebens ein. Hamburg kam ihm vor "wie ein einziger Park". Dort sah er, daß es möglich war, behinderte Kinder in normale Schulen zu integrieren.
In Rumänien gab es keine Sonderschullehrer, aber es fand sich ein Mann mit dem Nachnamen Weihnachten: Der Ingenieur Tudorel Craciun, 28, eigentlich spezialisiert auf Fischfang, war gewillt, sich mit deutscher Hilfe in dem neuen Fachgebiet weiterzubilden.
Seine Kaspar-Hauser-Sonderschulklasse ist nach logischen Spielen in die abstrakte Welt der Zeichen vorgedrungen. "Daß sie als behindert eingestuft wurden, war fast kriminell", sagt Craciun. "So haben sie wichtige Jahre verpaßt."
Jeder der acht Schüler kann die Buchstaben sagen, auf die der Lehrer zeigt. Er verbessert ihre Aussprache, und mit ihren ungeübten Zungen sprechen sie ihm angestrengt nach. Im nächsten Schuljahr werden sie mehr sein, in Cighid erwacht gerade in manch anderem Kind der Verstand.
Dagegen ist Florin, 20, innerlich im Isolator geblieben. Vollkommen weggetreten aus dieser Welt, sieht er vor sich hin. Aber der Jüngling, der aus dem Dunkel vernagelter Fenster kam, öffnete sich dem Licht: Er ist meist am Fenster zu finden.
Vandana, 15, die das verlorenste Kind in der Gewalthierarchie des Isolators war und verstört in einer Ecke auf dem glitschigen Betonboden oder gar unterm Bett kauerte, blieb zurückgezogen in ihrem Autismus. Aber sie scheint alles zu verstehen. Gerade machte sie den riesigen Fortschritt, für einen winzigen Moment einem fremden Blick standzuhalten und ein scheues Lächeln zu wagen.
Angela wurde einstmals hinter einem Drahtgitter in einer lichtlosen Abseite gehalten. Das aggressive Mädchen, das damals mit seinen Exkrementen warf, entwickelte sich zu einer naiven Spaßmacherin. Mit ihrem erwachten Eigentumssinn trägt sie ihren Schatz in der unförmig ausgebeulten Trainingshose vor dem Bauch und kreischt vor Lachen, wenn sie ihre Plastikklötze und Puppenglieder herausholt.
Als sie sich kürzlich in einem autoaggressiven Anfall die Hand verletzt hatte und der Arzt Oarcea die Wunde nähen wollte, kam ihr altes Trauma hoch: Wenn Angela abends aus dem Zwinger geholt wurde, jagte ihr eine Schwester ein Psychopharmakon in den Po, während eine Pflegerin mit all ihrer Kraft das infernalisch schreiende Mädchen festhielt. Aus dieser Not heraus geschah fünf Jahre später ein kleines Wunder: Klar und deutlich sprach Angela, 17, den ersten Satz ihres Lebens: "Doktor, ich will keine Spritze."
Im Isolator ließen alle ihren Kot fallen. Essen hatten sie nicht gelernt, die meisten stopften sich mit den Händen den breiigen Fraß in den Mund, die wenigsten konnten einen Löffel halten. Heute beherrschen alle die Grundregeln der Zivilisation: Sie gehen zur Toilette, und sie essen gesittet mit dem Löffel.
Aber viele fallen immer wieder in ihre alten Leerlaufreaktionen zurück. Stundenlang wiegen sie sich hin und her. Auf diese Weise verschafft sich ihr Körper sensorische Reize, während die Welt rundum wie eine Glocke wird, in der nichts mehr zu fixieren ist. Inwieweit ihre Schäden organisch bedingt sind und inwieweit sie im Isolator verrückt gemacht wurden, kann niemand sagen.
Zwar werden die Jugendlichen jeden Tag auf lange Spaziergänge geführt, aber damit allein ist das Einerlei ihrer Tage nicht zu füllen. Die flirrenden Bilder aus einem Schwarzweißfernseher interessieren sie wenig, der Spiegel an der Wand ihres Tagesraums hat längst den dramatischen Effekt verloren, als sie sich zum erstenmal sahen.
Die ehemaligen Insassen des Isolators müßten therapeutisch in Werkstätten beschäftigt werden, wie es Doktor Oarcea in Alsterdorf sah. Aber dafür gibt es keinen Raum in dem überfüllten Schloß. Der hellblau ausgemalte Trakt für die 16 Jugendlichen im Obergeschoß ist ohnehin viel zu klein: Im Tagesraum herrscht eine bedrängende Enge, in den zwei Schlafräumen, getrennt für Jungen und Mädchen, stehen schon Betten übereinander. Die psychosexuellen Spannungen zwischen den Geschlechtern sind kaum noch zu meistern. Tag und Nacht wachen Betreuer über sie.
Der Arzt Oarcea plante für die Jugendlichen, die am schwersten von dem alten System geschädigt wurden, ein neues Haus im Park. Aber das Geld dafür (umgerechnet 320 000 Mark) wurde nicht bewilligt.
Die Bürokraten schickten ihm vielmehr eine Reihe von mehrfach behinderten Kleinkindern: blind, taub, gelähmt, epileptisch, spastisch: "Unsere Sorgenkinder." Sie kamen anstelle von 17 Jugendlichen, die während der Renovierung des Schlosses ausquartiert worden waren und nicht mehr zurückkehren durften.
Auf der Suche nach ihnen stießen die Alsterdorfer am Rande der Karpaten, in Nucet, auf eine archaische Anstalt mit rund 400 Insassen: verwirrte Alte oder entwurzelte Junge, krank im Kopf oder krank an der Lunge, ein Gemisch all derer, die Rumäniens Gesellschaft ausstieß. Auch dorthin trugen die engagierten Deutschen das Licht der Veränderung nach skandinavischem Vorbild und unterstützen zu viert bis heute ihre rumänischen Kollegen.
Daniel, 20, verdankt den Neuerungen, daß er sich frei bewegen kann bis hin in das Dorf Nucet mit 1567 Einwohnern. Daher hat er es, so meint er, besser als früher. Wenn er aus dem Schloß davongelaufen war zu dem einsamen Bahnwärterhäuschen von Cighid, um Musik aus einem Radio zu hören und auf dem Bahnsteig zu tanzen, mit der Grazie eines Naturtalents, wurde er nach der Rückkehr bestraft: "Sie drohten, mich mit Haloperidol vollzupumpen, und manchmal machten sie das auch." Er kennt sich aus mit dem sedierenden Neuroleptikum und zählt auch eine ganze Reihe anderer Marken auf.
Er rappelt Vornamen, Nachnamen von vielen Kindern und Bediensteten herunter, er erinnert sich an unzählige Details von Cighid. Er erkennt die deutschen Journalisten wieder: "Nachdem ihr da wart, änderte sich vieles." Was die deutschen Helfer nicht alles mitbrachten - aber die Schokolade, die hätten ihm Pflegerinnen gleich wieder aus der Hand gerissen.
Seine Intelligenz blieb ungeformt, aber sie muß schon immer dagewesen sein. Trotzdem war er nach Cighid gekommen: Er konnte schlecht sehen. Durch eine fortschreitende Degeneration seiner Sehnerven wird Daniel bald erblinden.
Gegen den Verlust sensibilisierte er sein Gehör und erschloß sich ohne Hilfe den Reichtum der Musik. Er kann mit Topfdeckeln phantastische Rhythmen erzeugen. Bevor ihm seine Mundharmonika kaputtgemacht wurde, bezauberte er seine Umwelt durch schmelzende Melodien. Jetzt zieht er mit einer primitiven Flöte durch die Gegend und spielt sein Lied von Freud und Tod.
Mit seinem fotografischen Gedächtnis speicherte er die Schrecken von Cighid: "Das sterbende Kind, dem die Barbu nicht half; erst als es tot war, pumpte sie ihm Formalin in den Bauch, damit es nicht verfiel. Es hatte nämlich Eltern." Vor seinen inneren Augen ist sie immer da, die riesengroße Ratte: "Sie biß einem Kind das Auge aus, und am anderen Morgen war es tot." Diese Bilder werden bleiben, wenn ihn längst die Nacht eingeschlossen haben wird.
Warum, so hadert der Doktor von Cighid mit sich selbst, warum hatte er nicht entschlossener für die Rückkehr von Daniel und den anderen gekämpft: "Das war ein Fehler."
Trotz seiner Irrtümer brachte er ein titanisches Werk auf den Weg. Daß seine Kinder, wenn sie Erwachsene werden, das Schloß als ihr Zuhause behalten können und nicht wie Daniel und die anderen abgeschoben werden, dafür will er sich einsetzen. Die Toten von Cighid - dem Doktor wurden sie zur Herausforderung, die Überlebenden zu beschützen.
Zur Trauerarbeit am KZ-Syndrom ging er mit den Kindern jedes Jahr am Totensonntag zum Friedhof in Ghiorac. Sie brachten die Gräber in Ordnung und hängten nach Landessitte bunte Papierblumen an jedes Kreuz.
Anstelle der verwitterten Kreuze würde Oarcea gern einen Gedenkstein mit eingemeißeltem Namen von jedem Kind setzen. Aber wie soll er den abzwacken von seinem knappen Etat, der für die Verpflegung von einem Kind nur 1560 Lei am Tag vorsieht, den Gegenwert von zwei Broten?
Daß der Bauer die Hälfte der Gräber umpflügte, kränkte den Doktor. Da er aber die Sympathie der Gegend für die Eingliederung der Überlebenden braucht, verzichtete er auf eine Anzeige: "Für den Frevel hätte der Bauer ins Gefängnis kommen können. Wem wäre damit gedient?"
SPIEGEL Nr. 13 vom 27.03.1995 S. 90
Kunstschule Atelier
Sybille Kreynhop www.kunstschule-kreynhop.de Beschreibung zum Bild unten Titel "Das Zuhören - Du musst auch mal zuhören … Sa. - Gute Gedanken" - 2015 | Bleistift, Feder, Aquarell auf Papier | 70 x 100 cm Beschreibung zum Bild unten Titel "Aufbruch" - 2014 | Öl auf Leinwand | 120 x 150 cm (Bildausschnitt) |