"Warum sollen wir schuld sein?"
SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth über Hilfe für Rumäniens ausgestoßene Kinder
Tirgu Mures ist in der Weltöffentlichkeit zum Bild von Mistgabeln geronnen, die in Menschenkörper fuhren. Aufgeputschte Rumänen und Ungarn zerfleischten sich in einem Nationalitäten-Exzeß. Einen Monat nach den Greuelszenen, die auszustrahlen sich keine Fernsehstation von Rang entgehen ließ, herrscht in der rumänischen Kreisstadt wieder Ruhe. Vor dem historischen Rathaus steht eine Reihe bewaffneter Miliz in Regencapes. Im Hotel Continental wiegt sich Yuppie-Jugend der tiefen Provinz zu "Love me tender" und "Only you" mit Schluckauf aus einheimischer Sängerinkehle.
Die Leute aus Norwegen tanzen nicht. Im Continental haben sie ihren Stützpunkt, um in dem Gebiet um Tirgu Mures, das bei einer internationalen Rotkreuz-Konferenz den Norwegern zugeschlagen wurde, Hilfe zu leisten. Die Hausfrauen Hild Salin, Mutter dreier erwachsener Söhne, und Berit Stadsnes, eine Großmutter im Sweatshirt mit dem Aufdruck "Courage", sitzen mit fahlen Gesichtern, erschöpft bis zum Rande ihrer Leistungsfähigkeit, einfach nur so da. Sie haben ihren Tag, wie schon endlose andere Tage, mit Kindern zugebracht, die, so sagen sie, "wie die Tiere gehalten werden".
42 Kilometer sind es vom zivilisierten Continental bis zum Haus der menschlichen Tiere. Über dem Dorf Brincovenesti erhebt sich ein mittelalterliches Kastell, darin mittelalterliche Zustände, doch auch die Moderne in Gestalt dreier hier angestellter Ärzte. Im Archipel der 26 Bewahranstalten für 4200 Kinder, die das medizinische Stigma "irecuperabil", wörtlich: unwiederbringlich, tragen, hat die Burg von Brincovenesti einen Spitzenstandard, jedenfalls nach Klassifikation des Bukarester Gesundheitsministeriums. 97 Angestellte, wenn auch nur 3 gelernte Schwestern, sind offiziell da für 320 "Unwiederbringliche".
Sie liegen in riesigen Rittersälen, oft zu zweit im Gitterbett, oft zu schwach, um den Kopf zu heben. Über drei Jahre sind sie alle, doch klein wie Säuglinge sind viele. Manche sind nur noch Gerippe. Ein Kind mit verwachsenem Gesicht und nur einem Auge ist ohne chirurgische Hilfe als Zyklop belassen worden.
Wir sind zu fünft vom SPIEGEL und von SPIEGEL-TV, wir haben den ersten Schock beim Anblick rumänischen Kinderelends schon hinter uns, aber nie werden wir uns an diesen Anblick gewöhnen können, im Gegenteil. Je mehr wir sehen, je genauer wir in die trostlosen Gesichtchen schauen, desto stärker wird unsere Wut auf die gesichtslosen Schuldigen, unzählige, die zusammengewirkt haben, damit dieses soziale und medizinische Verbrechen geschah.
Grenzenlos traurige Kinderaugen sehen uns an oder, schlimmer noch, starren ins Leere, und wir wissen, daß viele von diesen Kindern lachen und tollen könnten, wenn sie die Segnungen des modernen medizinischen Wissens genossen hätten, das sich in den dreißiger Jahren in den USA zu bilden begann. Damals hatten Ärzte dem Wunschkind eines Gastwirtehepaares das halbe Hirn mit einem Tumor herausgenommen und dem Baby mit einer schlaffen Körperseite eine lebenslange körperliche und geistige Behinderung vorausgesagt: unwiederbringlich. Doch die Eltern hatten mit dem Mut der Verzweiflung die schlaffen Glieder ihres Lieblings immer wieder bewegt, bis sich eine für die damalige Zeit medizinische Sensation einstellte: Ihr Kind lernte laufen, später lesen und absolvierte schließlich eine normale Schule.
Mittlerweile ist wissenschaftlich belegt, daß eine Hirnhälfte die ausgefallenen Funktionen der anderen übernehmen kann; inzwischen ist ein Spezialtraining ausgefeilt, das bei hirnorganisch geschädigten Babys extrem gute Erfolge hat und selbst Erwachsenen nach einer Kopfverletzung oder einem Schlaganfall noch hilft, kleinere Ausfallerscheinungen einigermaßen auszugleichen. Zu "Unwiederbringlichen" wurden in Rumänien die Kinder mit den hirnorganischen Schäden gemacht.
Als Säuglinge bekamen sie in Krippen gerade so viel Pflege, um eben für eine günstige Statistik zu überleben. Die Vernarrtheit in Zahlen war derart ausgeprägt, daß tote Babys in der Pathologie zerschnitten wurden, um aus den Teilen mehrerer nur eine Leiche für die Bürokratie zu konstruieren. Die mit nicht sehr viel mehr als dem nackten Leben davonkamen, wurden im Alter von drei Jahren nach ihrem Intelligenzquotienten selektiert - entsprechend internationalen Normen, wie sie in den USA für Kinder aufgestellt wurden, die unter normalen Bedingungen aufwuchsen und, sofern sie hirnorganische Schäden hatten, mit allen Finessen behandelt wurden.
Rumäniens verlassene Kinder, die Findlinge und die Überzähligen aus hungrigen Familien, vegetierten dagegen in den Sozialwaisenhäusern ohne Zuwendung wie kleine Kaspar Hausers. Wer nach den vertanen frühen Jahren in der Krippe geistig den Quotienten 30 nicht brachte, wurde in die "Unwiederbringlichen"-Heime mit noch schlechteren Bedingungen abgeschoben - oft in den Tod nach nur wenigen Wochen. Der Euthanasie durch die Verhältnisse fielen 40 Prozent im Jahr zum Opfer, so ermittelte eine Unicef-Kommission, die, alarmiert durch den ersten SPIEGEL-Bericht über die Kindervernichtung, nach Rumänien gereist war.
Jedes Jahr, jeden eiskalten Winter wieder von neuem auf dem Rüttelsieb des Todes, sind dennoch die Vitalen, die nicht an Unterernährung eingingen, die minus vier Grad Raumtemperatur ertrugen und Serien von Masseninfektionen überlebten, größer geworden: In der Burg von Brincovenesti sind alle Stadien einer Zucht von Idioten zu betrachten.
Zu den kleinen Kindern hat uns die diensthabende Schwester noch willfährig geführt, den Raum, aus dem die Heultöne dringen, will sie nicht aufsperren, weil sie angeblich keinen Schlüssel hat. Wir sind genervt, böse Worte gehen hin und her, einer von uns rüttelt an der Tür, und sie springt aus dem Schloß. Was wir nicht sehen sollten, sind die größeren Kinder in einem Holzkoben von nicht einmal zwei Quadratmetern: Grindig, schorfig, totenblaß, stumpf und leer hocken sie eng aneinandergedrängt hinter den Gatterlatten.
Die Tür steht offen, aber diese Kinder müssen ihr Gefängnis in sich tragen, denn sie kommen nicht heraus in den Raum, in dem die anderen auf Bänken sitzen und sich apathisch hin und her wiegen oder mit dem Kopf gegen die Wand schlagen. Eine Wärterin ist bei den Kindern und verweist ein jedes, das einen Anflug von Aktivität zeigt, zurück in die Passivität des Wahnsinns auf die Bank.
Dennoch haben es einige Kinder geschafft, ihrer Verblödung zu entgehen. In einem anderen Raum wird uns der Stolz von Brincovenesti vorgeführt: eine Gruppe, die brav auf genau solchen Bänken ohne Lehne sitzt und uns ein Lied entgegenschmettert. Vom niedrigsten Status der "Unwiederbringlichen" haben sich diese Kinder hochgearbeitet in die vorletzte Kategorie der "Halbwiederbringlichen", denen ein Minimum von Anregung gewährt wird.
Wer jedoch weiter zurückfiel, aber als Kind nicht starb, beendet irgendwann sein Leben im Erwachsenen-Getto. Die jungen Männer werden in ein anderes Haus verlegt, die 18jährigen Mädchen in einen anderen Trakt der Burg. Manche sind nackt, ihre Körper wirken kräftig. Schließlich haben sie dank ihrer Natur die Euthanasie durch die Verhältnisse überlebt. Sie hocken auf der Bank, wie die Kindheit über gewöhnt, und wiegen sich hin und her, viele unfähig, einen fremden Blick zu halten.
Zur Erwachsenengesellschaft von Brincovenesti gehören noch ein paar putzige Frauen, die als Faktotum dienen und die schweren Essenstöpfe tragen. Einige verwirrte Alte dämmern ihrem Ende entgegen.
Daß mitten unter den Lebenden auf engstem Raum, daß neben der Schlafenden mit offenem Mund eine Tote liegen könnte, haben wir nicht für möglich gehalten und deshalb das Laken mit den starren Konturen eines menschlichen Körpers übersehen, bis es die Lebendigste von allen wegreißt, um uns zu demonstrieren, daß wir uns in einem Sterbehaus befinden. Wir sehen auf das friedliche Gesicht einer alten Frau, das uns in seiner Würde ergreift, aber nicht erschüttert wie die Gesichter derer, denen noch zu helfen wäre. Der Arzt Peter Havas, den wir am nächsten Morgen nach der Mortalität in Brincovenesti fragen, erinnert sich erst mit einiger Nachhilfe an den gestrigen Todesfall und wischt ihn mit einer Handbewegung als natürlich fort. Von den Kindern stürben "an ihren organischen Schäden", wie er betont, "30 bis 40 im Jahr". Die norwegischen Hausfrauen haben bei ihrer wochenlangen Arbeit durch vorsichtige Fragen 67 tote Kinder im letzten Jahr ermittelt und 170 noch lebende gezählt.
Wir fragen nach den Totenscheinen, aber Doktor Havas läßt sie uns nicht sehen. "Warum", so fragt er uns, "sollen Ärzte schuld sein an unheilbaren Krankheiten, die sowieso nicht behandelt werden können?" Wir wollen auf den Friedhof, und sein medizinischer Assistent Ioan Roman führt uns an Grabkreuze, deren letztes Datum von 1985 stammt. Doch die Leute von einem benachbarten Gehöft rufen uns zu, dies sei ihr Friedhof, nicht der des Kastells. Roman steht zerknirscht da und zeigt uns schließlich ein von Brennesseln überwuchertes Massengrab am Rande eines Maisfeldes mit einer flach ausgehobenen Grube.
In die Burg von Brincovenesti ist das Schuldbewußtsein eingezogen. Mit den Gütern, die die Keller brechend voll gemacht haben, wenn sie überhaupt noch da sind wie die in einem gruftigen Gewölbe gammelnden Berge von Papierwindeln, sind ausländische Besucher gekommen. Ihre Erschütterung hat das Personal verstört. Die Schwestern sagen, sie wollten endlich ihre Ruhe wiederhaben, Doktor Havas hämmert uns ein: "Wir Ärzte haben unsere Pflicht getan."
Im bescheidenen Haus seines ärztlichen Chefs - Farbfernseher, Stereoanlage, wie sie nur wenige in Rumänien besitzen, und Stapel von Waren auf dem Wohnzimmerschrank - empfängt uns die Mutter und erteilt die Auskunft, ihr Sohn sei nach Norwegen geflogen. Auf der Rückreise wolle er in der Bundesrepublik ein Auto kaufen.
Derweil versuchen die norwegischen Hausfrauen mit Sensibilität, das Bewußtsein des Personals zu verändern. Noch, so sagen sie beide, seien sie nicht willkommen in dieser Burg. Die norwegische Hilfe trieft von menschlicher Anständigkeit, aber sie verläppert sich in Ineffektivität und der Vision vom Bau eines neuen Hauses.
Wir sind fast 300 Kilometer von Cighid an der ungarischen Grenze gekommen und haben erlebt, wie die Deutschen den Bezirk Bihor aufrollten und den Kreisdirektor Dorel Draghici samt wichtiger Entscheidungsträger an einem riesigen Tisch versammelten. Nach einem Durcheinander von Rede und Gegenrede stand für die Kinder von Cighid ein Notprogramm. Mit 50 Mark pro Monat in Devisen, draufgelegt auf das rumänische Gehalt, ist das Jagdschloß von einem verfemten Ort für zwangsverpflichtete Krankenschwestern zu einem attraktiven Arbeitsplatz geworden. Um zwei neue Ärzte zu gewinnen, mußten allerdings 280 Mark pro Monat ausgesetzt werden. Constantin Nenciu, der nach der Revolution im Rathaus als neuer Referent für Cighid vergebens wenigstens einen Arzt für die Kinder gesucht hatte, registrierte "beglückt und traurig zugleich das Wunder des Geldes".
Vom alten Personal des Heims wurden wir gefragt, ob wir das Schlößchen samt der Kinder gekauft hätten. "Vorsicht, die Deutschen kommen", hieß es, als wir um eine Ecke bogen und gerade noch sahen, wie sich Betreuerinnen Süßigkeiten für die Kinder in den Mund schoben. Die Helfer vom Arbeiter-Samariter-Bund, die einander abwechselnd auf Dauer vor Ort bleiben, haben eine Strategie aus Vertrauen und Kontrolle eingeführt, um über die gefüllten Lager zu wachen. Sie bestanden darauf, daß zum Beispiel Schuhe für die Kinder sofort ausgegeben wurden, ohne daß die Betreuerinnen, wie bislang üblich, umständliche Formulare auszufüllen hatten. Aber sie achteten doch wiederum darauf, daß die Lux-Seife, ein Wert, für den manche Rumänin zumindest sprichwörtlich ins Bett zu bekommen ist, tatsächlich zum Baden der Kinder gebraucht wurde und nicht gleich wieder verschwand. Trotzdem wurde geklaut, aber nur mäßig.
Die Entlausungsmittel wurden ausgegeben mit der Auflage, daß zumindest den größeren Kindern die Köpfe nicht mehr geschoren würden. "Menschenwürde", wurde auf deutsch gesagt, und die Pflegerin nickte zustimmend "da, da", ja, ja. Mit Gesten animierten die Deutschen die rumänischen Pflegerinnen, die Kleinen nicht mehr mit rasender Geschwindigkeit in ihren Betten abzufüttern, sondern auf den Schoß zu nehmen und sich mit ihnen gemütlich hinzusetzen. Für die Größeren, die bis vor kurzem einen kalten Fraß in den (inzwischen aufgelösten) "Izolator" geschoben bekamen, wurde mit Tischen und Bänken, gestempelt "Köln", ein Speiseraum eingerichtet. Sie lernen, nicht wie Tiere, sondern wie Menschenkinder zu essen.
Entspannt durch die Zeit, die sie durch die Verdoppelung des Personals gewonnen haben, brachten Pflegerinnen mit einigem Stolz einer Vierjährigen, die wegen ihres motorischen Rückstandes als "irecuperabil" diagnostiziert worden war, das Laufen bei. Ein Therapeuten-Team aus den Alsterdorfer Anstalten Hamburgs begann, die Kinder mit den steifen Beinen vom jahrelangen Liegen oder Hocken im Bett zur Bewegung in Luft und Sonne anzuregen. Das monotone Wippen oder Wackeln mit den Köpfen hörte bei vielen Kindern schlagartig auf, wenn man sich mit ihnen beschäftigte, aber es setzte ebenso schlagartig wieder ein, wenn man sich von ihnen abwendete.
Die Therapeuten ärgerten sich zwar über manche Pannen in der Organisation, aber die Verhältnisse für die Kinder verbesserten sich allmählich. Daß die Veränderung ihres Lebens in dem Moment begann, als die Kamera und der Fotoapparat mit dem Blitz kamen, kapierten einige Kinder. Sie streichelten die Geräte, als sie sie wiedersahen, und ein Kind küßte die Kamera.
Das einst niederste Kind in der Hierarchie von Cighid, tags im Käfig eingesperrt und für die Nacht psychopharmakologisch abgespritzt, sahen wir im Krankenhaus wieder, inmitten einer Mädchengruppe, die vor dem Fernseher saß, aber die Produktion von Fernsehen viel interessanter fand. "Maria, Maria", riefen sie den Star des Lebensfilms immer wieder, damit sie in die Kamera schaute, und Maria Deutsch, den Kopf wegen ihrer Mittelohrentzündung eingebunden, schien durch das dicke Tuch nach jahrelanger Dumpfheit zu hören, daß sich die kleine Welt um sie herum für sie, Maria, Maria, interessierte. Ihre Kerkergefährtin Angela Fechete, in Cighid verblieben, hoppelte auf ihren steifen Beinen ungelenk durch den Park, brachte aber mit ihren Armen die motorische Meisterleistung zustande, einen Luftballon zu halten und einen zweiten zu fangen.
Die Deutschen haben Cighid mit seinen 107 Kindern, abgerechnet 2 Tote, die in der kurzen Zeit zwischen Planung und Beginn der Hilfsaktionen zu beklagen waren, zwar wie im Sturm genommen. Aber Lothar Evers, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (auf deren Konto die Spenden eingingen), brachte den Führungsleuten des Kreises Bihor nahe, daß "wir nicht da sind, weil wir das alles per se besser können, sondern weil wir die Verstrickung deutscher Ärzte und Psychiater in die Euthanasie der Nazi-Zeit studiert und erst Jahrzehnte später erkannt haben, daß sie keine spezifische Monstrosität war, sondern in den Bereich der Verhaltensweisen gehört, die es geben kann". Was in Deutschland geschah, müsse eine Aufforderung sein, daß es nie wieder geschehe. Es sei aber wieder geschehen. Evers erhob sein Glas, "daß es nicht ein drittes Mal geschieht". Die versammelten Rumänen und Deutschen erhoben ihre Gläser auf einen "historischen Moment".
Voll von Szenen der Hoffnung für die Kinder von Cighid waren wir nach Brincovenesti gekommen, doch die düstere Burg löschte alles aus. Dabei haben wir noch Paläste gesehen im Vergleich zu dem armseligen Kinderhaus in Timisul de Sus, einem Karpatendorf bei Brasov oder Kronstadt, wie die Deutschstämmigen sagen. Auf der Europastraße 60 donnern die Laster vorbei an dem Gebäude mit winzigen Zimmern, brechend voll mit 98 Kindern. 36 kauern in einem Raum von etwa 15 Quadratmetern auf dem Boden, die Größeren. Die Kleineren in den Gitterbetten multiplizieren das Elend in der Enge bis zur Unerträglichkeit.
Prinzessin Helen von Rumänien, die im britischen Exil einer Stiftung für behinderte Kinder den Glanz ihres Geblüts verleiht, schreitet eine Dimension der Entsetzlichkeit ab, wie sie sie noch nie gesehen, ja noch nicht einmal für vorstellbar gehalten hat. Sie streichelt die elendigen Kinder für das BBC-Fernsehen und streichelt unermüdlich weiter, als die Kamera schon längst nicht mehr läuft, um sich mit kleiner Zärtlichkeit nur irgendwie über ihr elementares Erschrecken hinwegzuhelfen. Wir schicken sie in den ersten Stock, ans Ende des Flurs, wo wie ein zusammengetriebenes animalisches Rudel die Größeren hocken. Sie kommt schnell wieder herunter, sagt mit Prinzessinnen-Fassung "incredible" und verläßt fluchtartig das Haus.
Auch die beiden neuen Ärztinnen Mariana Sovaiala-Lutsch und Gabriela Stratuta wären, wie sie erzählen, am liebsten davongelaufen, als sie sahen, für was für Bündel von Krankheit und Vernachlässigung sie nun zu sorgen haben. Da sich die beiden jungen Frauen in der Facharztausbildung befinden, müssen sie entgegen ihren Fluchtimpulsen eine Zeitlang ausharren bei den Kindern von Timisul. Ihr Vorgänger Dr. Dorin Dumitrescu, ein gestandener Arzt und Familienvater, hielt sich nur ein paar Tage auf dem Posten in dem Kinderheim. Er wurde von der Polizei mit vier Schlafanzügen aus den Spenden im Auto geschnappt und strafversetzt in eine Ambulanz auf dem Land, wo er an Hilfsgüter nicht herankommen kann.
Oberschwester Elena Coman hat in diesem Haus seit über zehn Jahren die Ärzte kommen und gehen und die Kinder dennoch sterben sehen. In den harten Wintern erfroren jene, deren Betten nah am Fenster standen. "Was sollten wir machen?" sagt sie. "Hier mußten wir ja dauernd sparen, Holz sparen, Kohlen sparen, dauernd sparen." In den warmen Sommern fehlte es ihr an Personal, die Kinder ins Freie zu tragen. Fahl und grau im Gesicht, vegetierten sie immer in den winzigen Zimmern.
Die Oberschwester konnte sich nur auf eine zweite Schwester stützen, die übrigen vier Kolleginnen waren als Alkoholikerinnen in das Heim strafversetzt und für die Arbeit kaum zu gebrauchen. Die 14 ungelernten Kräfte schafften es nur, die Kinder notdürftig zu versorgen.
Schwester Coman sucht lange nach den Abreißblocks mit den Totenscheinen und findet schließlich die letzten Jahrgänge: 36 tote Kinder 1987, 32 tote Kinder 1988, 31 tote Kinder 1989, 3 in diesem Jahr, das letzte erschlagen von einem anderen Kind, das in der Enge vor Aggressivität gerast hatte. "Was sollen wir für die Toten jetzt noch tun?" fragt die Schwester stoisch. Sie scheint aber mehr getan zu haben als ihre Kolleginnen anderswo.
Während in Cighid jedes zweite Kind binnen eines Jahres starb, wurde in Timisul "nur" jedes dritte Kind auf dem Dorffriedhof beerdigt - trotz der sehr viel schlechteren räumlichen Bedingungen. Während in Cighid verräterische Todesursachen wie "Erstickt an Erbrochenem" beurkundet wurden, durfte in Timisul nur immer "akute Atemnot" verzeichnet werden. Das Heim stand unter strenger Aufsicht der Securitate, nachdem Radio Freies Europa einen vagen Bericht über das Totenhaus ausgestrahlt hatte. Dem Personal wurde auferlegt, in Listen, die uns gezeigt werden, jeden mit genauer Anschrift einzutragen, der das Heim betrat.
Schwester Coman hat die Revolution wie eine Befreiung erlebt, eine Befreiung auch von dem nach ihrer praktischen Erfahrung unsinnigen medizinischen Konzept, daß diese Kinder "irecuperabil" sind. Sie hat viele Fremde in dem Heim gesehen, aber sehr wenige Rumänen, denn "unsere Menschen haben sich gewöhnt, erst einmal an sich zu denken". Holländer und Schweizer kamen mit Plänen für den Bau eines neuen Hauses und sind wieder fort.
Was dem "Totenhaus" in den Bergen dringend fehlt, damit aus den lebendigen Toten wenigstens halbwegs lebendige Kinder werden, weiß der Kaufmann Constantin Mihailescu, obschon kein Arzt, nur zu genau. Als politisch Verfolgter aus Rumänien nach Frankreich geflüchtet, hatte er nach der Revolution seinen Laden dichtgemacht und war für die "Medecins du Monde" in die alte Heimat nach Brasov gekommen.
Im Carpati, einem Hotel der Luxusklasse mit zerschlissener Bettwäsche und unzähligen anderen Anzeichen der Armut, dirigiert er mit Power die Hilfsmaßnahmen in der den Franzosen zugewiesenen Zone. Für die Kinder von Timisul hat er 20 Rumänen engagiert, um sie zu einer halbjährigen Ausbildung als Physiotherapeuten nach Frankreich zu schicken mit der Verpflichtung, danach mindestens drei Jahre in dem Heim zu arbeiten. Doch wenn der Schneeregen in den Karpaten aufhört, hat Schwester Coman einstweilen noch immer nicht genug Personal, um die bleichen Kinder an die Sonne zu tragen.
So lange, wie diese Schwester vor Ort das Kindersterben erlebte, ein Jahrzehnt lang, verzeichnete - nur 150 Kilometer entfernt - im Bukarester Gesundheitsministerium die Kinderärztin Elisabeta Bratescu die Todesraten in den 26 Aufbewahrungsstätten für die "irecuperabil" gezeichneten Kinder. Sie war und ist bis heute die medizinische Generalinspektorin der Heime, sie hat - so auch vor fünf Jahren in Timisul - die erbärmlichen Kinder in den erbärmlichen Verhältnissen immer wieder mit eigenen Augen gesehen. "Selbstverständlich ist mir das Herz gebrochen", sagt die Frau mit dem verbitterten Gesicht sehr knapp, um sich mit einem Stakkato von Worten zu rechtfertigen.
Die Heime für die geistig behinderten Kinder seien nicht als Euthanasie-Einrichtungen konzipiert worden. "In Rumänien gab es die Euthanasie-Ideologie", und sie redet uns persönlich an, "die Sie im Nationalsozialismus hatten, nicht." Daß sich durch die geringen Mittel für Personal und Ausstattung Euthanasie-Stätten entwickelten, hätte sie klar gesehen und in diversen Vorlagen für die Spitze des Ministeriums niedergelegt, ohne je eine Veränderung erreichen zu können: "Ich stand allein."
In Rumänien durfte es "keine Behinderten geben", das Problem sei verdrängt worden. "Gewissermaßen sind diese Heime illegal gewesen", sagt sie. "Viele Leute hätten auf ihren Komfort verzichten und dies laut sagen können, vielleicht wäre die Situation besser geworden."
Als "nicht zuständig" erklärt sie sich für die nach ihrer Ansicht falsche Konzeption der rumänischen Kindermedizin, sich auf die "Quantität geretteter Leben" zu konzentrieren und die "Qualität des Lebens" zu vernachlässigen.
Kinder, die unreif geboren werden, nicht nur vor dem Tod zu bewahren, sondern ohne Behinderung ins Leben zu entlassen ist die Krönung der Hochleistungsmedizin. Obwohl diese Kunst in den arrivierten Ländern erst seit einigen Jahren einigermaßen, aber auch noch nicht perfekt beherrscht wird, dilettierte die rumänische Medizin auf diesem Sektor. In dem Hungerland massierten sich sowohl die Frühgeburten als auch die unterernährten Winzlinge unterernährter Mütter. "Das Personal", so die Ärztin Bratescu, "war konzentriert auf die Niedrighaltung der Todesrate der Kinder unter einem Jahr, aber die, die gelebt haben mit ihren Problemen, wurden sich selbst überlassen."
Was in einem Land mit begrenzten medizinischen Möglichkeiten getan und was unterlassen wird, kann gar nicht anders als durch eine im Kern inhumane konzeptionelle Selektion entschieden werden. International hat sich als Richtlinie für die Schwellenländer durchgesetzt, auf archaische Weise der Natur zu überlassen, ob ein Neugeborenes überlebt, und alle Kräfte auf eine gute Basismedizin zu lenken.
Nachdem in Rumänien die Prioritäten genau umgekehrt gesetzt wurden, hat sich mit grausamem Automatismus die medizinische Perversion ergeben, daß Kinder für einen verschobenen Tod gerettet wurden, um derentwillen andere Kinder, die hätten leben können, aus Vernachlässigung auch sterben mußten oder zumindest mit wackelnden Köpfen im Wahnsinn endeten.
Die Aussonderung der "Unwiederbringlichen" hält die Kinderärztin Bratescu für völlig gerechtfertigt, erfolgte sie doch, wie sie immer wieder betont, nach "international anerkannten Standards" wie dem in den USA entwickelten "Denver-Test" und den nach Bayley oder Griffith benannten Skalen "der geistigen Entwicklung". In der Tat sind die Verfahren ausgereift zur Beurteilung des körperlichen, motorischen und geistigen Entwicklungsstandes eines Kindes, der sich in Items samt Intelligenzquotient ausdrücken läßt.
Aber die Zahlen lassen keine Rückschlüsse zu, welche Kapazität ein Kind hat und was brachliegt, weil ihm die Welt nicht durch andere Menschen erschlossen wurde. Während die Tests im Westen angewandt werden, um für zurückgebliebene Kinder eine gezielte Förderung zu entwerfen, wurden sie in Rumänien benutzt, um aus der Masse der retardierten Dreijährigen diejenigen zu selektieren, für die ein Einsatz der knappen medizinischen Möglichkeiten nicht mehr lohnend erschien.
Die Diagnose "irecuperabil" kommt der hochrangigen Ärztin Bratescu ebenso leicht von den Lippen wie ihren nachgeordneten Kollegen. Das stigmatisierende Wort wird wie eine Selbstverständlichkeit im Schriftverkehr benutzt und sogar im Titel einiger Institutionen geführt. Daß die Kinder der hoffnungslosen Kategorie einem medizinischen Personal anvertraut wurden, das entweder jung und unerfahren war oder aber strafversetzt wegen Verfehlungen, vor allem Trunksucht, entwickelte sich nach Beobachtung von Dr. Bratescu mit einer Zwangsläufigkeit, die sie nicht hätte anhalten können. Ob sie sich schuldig fühle? "Ein wenig", sagt sie, nachdem sie lange die roten Tulpen auf ihrem Schreibtisch angestarrt hat, nur ein wenig, weil sie nicht immer mutig genug gewesen sei. Im übrigen sei sie vom Gesundheitsministerium "bloß für die Gesundheit" zuständig, während die Heime als Ganzes in die Kompetenz des Ministeriums für Arbeit und Soziales fielen.
Als "nicht schuldig" erklärt sich dort die Psychologin Rodica Munteanu, die nicht nur über die Zustände in den Häusern für die 4200 "Unwiederbringlichen" zu wachen hatte, sondern auch über die Heime für 24 000 Kinder mit "intellektuellen Handikaps", der zweitniedrigsten Selektionskategorie. Der attraktiven Frau mit der melodischen Stimme fliegen die Sympathien zu, anders als ihrer Kollegin aus dem medizinischen Bereich. "Mir haben die Kinder persönlich und professionell leid getan, ich habe ihre Situation ständig mit Schmerzen erlebt." Wie sie das ausgehalten hat? "Wir müssen als Helden eingestuft werden", sagt sie und berichtet, daß ihr in den letzten fünf Wintern immer wieder "der Kugelschreiber gefror".
Für die gerade eben noch als rettbar deklarierten Kinder habe sie einigermaßen günstige Bedingungen erwirken können, rechtfertigt sich die Psychologin. Bei ihren Bemühungen um bessere Verhältnisse für die "Unwiederbringlichen" sei sie leider gescheitert, obwohl sie ihren Minister habe gewinnen können; der aber sei beim Premierminister nicht durchgedrungen.
Der Arbeitsrechtler Gheorghe Brehoi, der nach der Revolution als Vizeminister Frau Munteanus Vorgesetzter wurde, schildert als Intimkenner des alten Systems, wie von Ceausescus Beraterstab alle Informationen aus den Ministerien, von denen anzunehmen war, daß sie dem Diktator mißfielen, weggedrückt wurden. Die Kinderhäuser für die "Irecuperabili" stellen sich ihm dar als "Mikrokosmos" für die Ausmerzung der Schwachen, wie sie genauso im "Makrokosmos" Rumänien geschehen sei.
"In diesem Vierteljahrhundert Ceausescu" seien an den drei F von "Foame, Frig, Frica", Hunger, Kälte, Angst, 60 000 Menschen gestorben - nicht ungeplant, wie Brehoi meint. Der Gedanke, daß ein Volk erstarken könnte, wenn es durch katastrophale Verhältnisse gejagt werde und dabei seine Schwächsten in die Gräber abstieße, dieser perfide Gedanke hätte im Kreis der Wahnsinnigen um den Oberwahnsinnigen ungeheuer fasziniert. Aber er dürfte, wie Brehoi kalkuliert, kaum dem Hirn des Conducators entsprungen sein: "Dafür war Ceausescu viel zu dumm."
SPIEGEL Nr. 17 vom 23.04.1990 S. 202
Kunstschule Atelier
Sybille Kreynhop www.kunstschule-kreynhop.de Beschreibung zum Bild unten Titel "Das Zuhören - Du musst auch mal zuhören … Sa. - Gute Gedanken" - 2015 | Bleistift, Feder, Aquarell auf Papier | 70 x 100 cm Beschreibung zum Bild unten Titel "Aufbruch" - 2014 | Öl auf Leinwand | 120 x 150 cm (Bildausschnitt) |